M94.5 Filmkritik
Alexander McQueen
Nach Alexander McQueens Tod erinnert sich Sebastian Pons, ein Freund und Kollege, an ein Gespräch mit dem berühmten Designer: Als Höhepunkt seiner letzten Modenschau wolle er sich vor Publikum das Leben nehmen, als ultimative Inszenierung. In der Realität fällt sein Suizid privater aus. 2010, am Abend der Beerdigung seiner Mutter, erhängt sich Alexander McQueen in seiner Londoner Wohnung. Die Dokumentation von Ian Bonhôte und Peter Ettedgui liefert einen beeindruckenden Blick in das Leben des Modeschöpfers, das nur 40 Jahre gedauert hat.
Eine Dokumentation wie ein Buch
Es ist ein Füllhorn an Material, das die beiden Regisseure zusammen getragen haben: Interviews mit Kollegen, Freunden und der Familie. Archivaufnahmen aus den Ateliers. Heimvideos. Mitschnitte der Runway-Shows. Strukturiert wird diese Unmenge an Eindrücken durch sechs Kapitel. Jedes davon dreht sich um einen entscheidenden Moment in McQueens Leben und eine seiner bahnbrechenden Runway-Shows. Um die düstere Romantik seiner Entwürfe zu vermitteln, ist jedes Kapitel mit einem kunstvoll animierten Intro versehen. Der Zuschauer darf zusehen, wie Blüten, Totenköpfe und mythische Gestalten wie Eisblumen wachsen. Dazu liefert Michael Nyman, ein Freund und zugleich einer der Lieblingskomponisten von Alexander McQueen, einen außergewöhnlichen Soundtrack: Seine Musik sorgt für Gänsehaut.
Unwahrscheinliche Lehrjahre eines Genies
Die Dokumentation bringt dem Zuschauer die Person Lee Alexander McQueen – wie er eigentlich heißt – ganz nahe: Ein sensibler, ziemlich schlechter Schüler aus einfachen Verhältnissen in East London, arbeitet unermüdlich. Er saugt alles über Schneiderei und Modedesign auf, lernt von den Besten. Seine Ausbildung beginnt er bei einem berühmten Herrenschneider in der Saville Row, wo auch Prinz Charles Kunde ist. Dort verziert McQueen das Innenfutter eines Anzugs für den Thronfolger mit einem Penis – so viel Rebellion muss sein. Trotz widriger Umstände und ohne die notwendigen finanziellen Mittel oder Sprachkenntnisse macht er Praktika in Europa und landet schließlich an der renommierten Modeschule Central St. Martin.
Der Designer als Geschichtenerzähler
Was im Verlauf des Films deutlich wird: Alexander McQueen ist nicht einfach ein Designer. Er sieht sich als Geschichtenerzähler. Für seine Kollektionen betreibt er aufwändige Recherchen. Er studiert die Familiengeschichte, die blutige Geschichte Englands, Mythologie. Seine Schauen sind nicht nur Kunst, sie sind Psychotherapie. Sie begeistern und verstören das Publikum gleichermaßen. „Mir geht es darum, Dinge einzufangen, die normalerweise nicht als ästhetisch empfunden werden. Damit möchte ich zeigen, dass wahre Schönheit von innen kommt“, sagt er. Bei ihm landen Müllhaufen und Industrie-Roboter auf der Bühne. Er schickt Models in Zwangsjacken über den Catwalk. Ihm wird vorgeworfen, mit seiner Mode Gewalt an Frauen zu ästhetisieren. Das Gegenteil ist der Fall: Als Kind muss er mit ansehen, wie seine Schwester von ihrem Mann misshandelt wird. Deshalb soll die McQueen Frau stark aussehen, fast furchterregend. Sie soll sich wie eine moderne Ritterin fühlen.
Die Privatperson quält sich
Sehr offen zeigt die Dokumentation, wie Alexander McQueen mit seinen inneren Dämonen zu kämpfen hatte. Dass er als Kind missbraucht wurde, macht es schwer für ihn, seinen Freunden zu vertrauen. Er fühlt sich schnell verraten und nutzt Menschen aus. Drogensucht, Angstattacken und Depression quälen ihn. Sein enormer Erfolg setzt ihn extrem unter Druck. Hat er seine ersten Schauen noch mit seiner Sozialhilfe finanziert, ist sein Unternehmen um die Jahrtausendwende angeblich um die 100 Millionen Pfund wert. Dieser Wahnsinn der Mode-Industrie bricht am Ende den fragilen kreativen Geist von Alexander McQueen. Die nach ihm benannte Dokumentation lässt ihn und sein Werk noch einmal aufleben: Ein opulentes Kaleidoskop aus Eindrücken seines übervollen Lebens.
“Alexander McQueen” läuft ab 29. November 2018 in den deutschen Kinos.