M94.5 Filmkritik
Little Women
Greta Gerwig, Liebling des amerikanischen Indie-Kinos, führt mit Little Women ein zweites Mal Regie – und beweist nach ihrem Erfolgsfilm Lady Bird erneut ihr Gespür für warme Zwischentöne und authentische Familienbeziehungen. Little Women liefert geschickte historische Einordnung und Wohlfühlkino zugleich.
Buchverfilmungen, deren Vorlage bereits mehrfach auf die große Leinwand transportiert wurde, werfen unweigerlich die Frage auf: Braucht’s das noch? Little Women, seit seinem Erscheinen im 19. Jahrhundert anhaltend und weltweit von jungen Leser*innen verschlungener Coming-of-Age-Bestseller, erfährt im Jahr 2019 schon seine siebte Verfilmung. Was zu Stummfilmzeiten begann, wurde später mehrfach mit Schauspielgrößen wie Katharine Hepburn (1933), Elizabeth Taylor und Janet Leigh (1949) oder auch Winona Ryder, Kirsten Dunst und Christian Bale (1994) fortgesetzt. Und auch 2019 nimmt die Liste namhafter Schauspieler*innen schier kein Ende: Saoirse Ronan, Emma Watson, Florence Pugh, Meryl Streep, Laura Dern, Timothée Chalamet – sie alle wollten diese doch offensichtlich längst zu Ende erzählte Geschichte noch einmal neu aufrollen. Wieso?
Progressiv und zeitlos zugleich
Eine erste Antwort liegt sicherlich in der Romanvorlage selbst: Für ein deutsches Publikum mögen die vier Schwestern aus Little Women nicht viel bedeuten, im englischsprachigen Raum hingegen verbindet viele Menschen ein inniges Verhältnis mit der Familie March. Vor allem für Mädchen und junge Frauen ist Louisa May Alcotts Roman häufig das erste Lieblingsbuch, ist die eigensinnige Protagonistin Jo Vorbild und Identifikationsfigur. Schon zu Zeiten seines Erscheinens in den USA der 1860er Jahre stach Little Women aus der Masse eines anspruchslosen Einheitsbreis heraus: Während Frauenfiguren sich in der Regel mit der Rolle als Liebchen, Prinzessin oder möglichst schnell an den Mann zu bringende Jungfrau zu begnügen hatten, machte Alcott ihre Little Women zu den Heldinnen ihrer eigenen Geschichte. Sie gab ihnen Ambitionen, klare Vorstellungen von ihrem eigenen Lebensweg, abseits der üblichen Heiratspläne, und stellte die Familie in den Mittelpunkt, die familiäre über die romantische Liebe. Ihrer Zeit war Alcott damit weit voraus. Kein Wunder also, dass ihre so liebevoll gezeichneten Figuren immer und immer wieder neu verkörpert werden wollen – und dass ihr progressives Frauenbild auch nach über 150 Jahren nichts an Relevanz verloren hat.
Autorenschaft clever rekontextualisiert
Darüber hinaus bietet diese siebte Verfilmung aber ein zusätzliches schlagendes Verkaufsargument: Regisseurin Greta Gerwig. Die Allrounderin startete ihre Hollywood-Karriere als Schauspielerin und fuhr unter anderem eine Golden-Globe-Nominierung für ihre Darstellung von Frances Ha ein, bevor sie 2017 schließlich ihr Regiedebüt mit Lady Bird wagte – und prompt mit einer Oscar-Nominierung belohnt wurde. Das machte sie zur ersten weiblichen Nominierten für Beste Regie nach acht Jahren ausschließlich männlicher Kandidaten, gleichzeitig nach 90 Oscar-Verleihungen zur fünften nominierten Regisseurin überhaupt. Und das ausgerechnet mit ihrem dezidiert „weiblichen“ Erzählstil: Ähnlich wie Autorin Louisa May Alcott legt Gerwig den Fokus auf die Familie, auf nicht immer bequeme und dennoch umso prägendere Familienbeziehungen und den unaufkündbaren Zusammenhalt zwischen Müttern und Töchtern oder Geschwistern. Wie schon bei Lady Bird schrieb sie auch für Little Women das Drehbuch selbst (beide Drehbücher sind Oscar-nominiert), und in ihrer filmischen Aufbereitung des literarischen Stoffes liegt vermutlich Gerwigs größte Leistung.
Auch wenn die Dialoge sich eng an die Vorlage halten, wirft Gerwigs Little Women deren strenge Chronologie über Bord. Ereignisse, die sich über einen Zeitraum von sieben Jahren zutragen, werden geschickt miteinander verwoben, ohne den Zuschauer mit Flashbacks und undurchsichtigen Timelines zu verwirren. Stattdessen ergeben sich neue Blickwinkel, wenn Gerwig Szenen aus der Gegenwart relevante Vergangenheitsszenen gegenüberstellt und so auf Gemeinsamkeiten oder subtile Charakterentwicklungen verweist. Worin Gerwigs Little Women sich allerdings am stärksten von vorherigen Verfilmungen unterscheidet, ist die Verschmelzung der Romangeschichte mit Alcotts eigener Biographie: Schriftstellerin Jo erlebt ähnliche Rückschläge wie Alcott, die selbst Zeit ihres Lebens unverheiratet blieb und Schwierigkeiten hatte, ihre Geschichten über unabhängige Frauen zu veröffentlichen. So begleitet der Zuschauer Buchfigur Jo bei der Publikation ihrer eigenen Geschichte. Und schließlich ist es eben diese erfolgreiche Veröffentlichung, die Gerwig zu Jos Happy End macht, und nicht die unvermeidbare Hochzeit zum Schluss, ohne die Alcott ihre Figuren nie an den Leser gebracht hätte.
Mehrwert einer feministischen Perspektive
Zugegeben, aus Sicht des modernen Feminismus im Jahre 2020 ist auch Gerwigs Finale nicht vollkommen befriedigend. Aber das muss es auch nicht sein, wenn die Grundlage das Leben einer beeindruckenden Feministin aus 1860 bildet. Little Women beweist, dass eine moderne Neuauflage nicht die Progressivität des Originals unterwandern muss, um ihr Publikum zu erreichen – dass ein Blick auf die ursprüngliche Entstehungsgeschichte aber durchaus wertvollen Kontext liefert. Diese zwar zuweilen rührselige, aber nie kitschige Neuverfilmung, getränkt in warme Herbsttöne und durchsetzt von großer Liebe für ihre Figuren, hat jede ihrer insgesamt sechs Oscar-Nominierungen verdient. Lob von der Academy erhielten Darstellerinnen Saoirse Ronan und Florence Pugh, das Kostüm von Jacqueline Durran (bereits Oscar-prämiert für Anna Karenina), der Soundtrack von Alexandre Desplat (bereits Oscar-prämiert für Grand Budapest Hotel und Shape of Water), sowie das Drehbuch von Greta Gerwig – und nicht zuletzt Little Women als Gesamtprojekt und potentiell „Bester Film“. Nur in der Funktion als Regisseurin ging Gerwig leer aus; 2020 setzt die Academy erneut auf eine rein männliche Regie-Auswahl. Diese alte Geschichte von starken Frauen in einer von Männern dominierten Welt… vielleicht ist Little Women doch zeitgemäßer, als der erste Blick verrät.
Little Women ist ab 30. Januar 2020 in den deutschen Kinos zu sehen. Wie der Film sich im Rennen um die Oscars schlägt, hört ihr am 09. Februar 2020 ab 23 Uhr in der M94.5 Oscar-Nacht.