Filmfest 2019
Kino-Juwelen
Nach neun Tagen Kino-Marathon kommt das Beste zum Schluss: Wir haben aus der Vielzahl an Filmen, die unser Filmfest-Team dieses Jahr gesehen hat, das Beste heraus kondensiert, damit ihr wisst, auf welche Kinostarts ihr euch besonders freuen könnt. Das sind unsere Lieblinge aus den über 180 Filmen, die das Filmfest München 2019 zu bieten hatte.
Canción sin nombre (Peru 2018)
Melina Leons Film Canción sin nombre trifft mit seiner Thematik einen sehr empfindlichen Nerv. Obwohl sich die Lebenswelt von Georgina nicht mehr von unserer unterscheiden könnte, schließlich wohnen sie und ihr junger Ehemann inmitten einer einsamen Landschaft und in großer Armut, windet man sich im Kinosessel und weint mit ihr, wenn sie gegen die Türen einer Klinik schlägt, die nicht existiert. Einer Klinik, die von Kidnappern geführt wird, die systematisch Mütter anwerben, um ihnen ihre Neugeborenen zu stehlen. Einer Klinik, die einfach weitergezogen ist, um an einem anderen Ort ihr schreckliches Werk weiterzuführen.
Canción sin nombre setzt nicht auf Dialog, nicht auf Erklärungsversuche. Er setzt auf die entgleisten Gesichtsausdrücke, auf das wiederholte Schreien, das verzweifelte Flehen einer Mutter, die alles verloren hat. Der Titel bedeutet in der Übersetzung “Lied ohne Name”. Das gemeinte Lied ist ein Schlaflied mit dem Refrain “Sleep little Baby, I ́ll sleep with you”. Jeden Abend singt Georgina diese Zeilen – ohne einen Namen einsetzen zu können. Ihr Baby bleibt anonym, namenlos, identitätslos, denn Georgina hat es nicht ein einziges Mal gesehen. Auch dem Zuschauer bleibt das Aussehen des Kindes verwehrt, der Regisseur lässt die Geburtsszene bewusst verschwimmen. Das symbolische Singen des Schlafliedes wird zum Motiv des Kampfes einer Frau, die nicht bereit ist, ihre Rolle als Mutter aufzugeben. lf
“Canción sin nombre” hat noch keinen deutschen Starttermin. Auf dem Filmfest München wurde er mit dem CineVision Award ausgezeichnet.
The Climb (USA 2019)
Kyle und Mike sind beste Freunde. Im Film The Climb – aber auch im echten Leben. Die beiden spielen nicht nur die Hauptcharaktere, sondern haben auch noch Regie geführt und das Drehbuch geschrieben. Ob das funktioniert? Erstaunlich gut sogar! The Climb ist erfrischend anders, erstaunlich lustig und durchweg unterhaltsam.
Die Handlung folgt zwei besten Freunden und zeigt verschiedene Kapitel aus ihrem Leben. Während Kyles Leben immer besser verläuft, geht Mikes Leben den Bach runter. Insgesamt wird ein Zeitraum von etwa 10 Jahren erzählt, jedoch wird jedes Kapitel für sich alleinstehend inszeniert. In langen One-Shot-Sequenzen, also Szenen ohne sichtbare Schnitte, zeigen Mike und Kyle, wie sie und ihre Freundschaft sich verändern. Besonderes Highlight: Jedes One-Shot-Kapitel wird musikalisch eigenartig, aber einzigartig abgerundet. jrt
“The Climb” hat noch keinen deutschen Starttermin. Unsere ausführliche Kritik lest ihr hier.
Cold Case Hammarskjöld (Dänemark 2019)
Wer Dokumentationen mit Verschwörungstheorien über politische Themen liebt, dem sei Cold Case Hammarskjöld wärmstens ans Herz gelegt. Der schwedische Investigativjournalist Mads Brügger kombiniert in seiner Doku Humor mit der Hingabe, einem mysteriösen Flugzeugabsturz nachzugehen, und deckt dabei schockierende, wie auch abstoßende Tatsachen auf.
Untermauert werden diese Entdeckungen sowohl mit Interviewmaterial, als auch Originalaufnahmen bestimmter Geschehen. Die Dokumentation lebt von Brüggers sympathischer Art, wofür auch andere seiner Werke bekannt sind. lb
“Cold Case Hammarskjöld” hat noch keinen deutschen Starttermin. Auf dem Filmfest München erhielt er eine lobende Erwähnung im Rahmen des Arri/Osram-Awards. Unsere ausführliche Kritik lest ihr hier.
The Disappearance of My Mother (Italien 2019)
The Disappearance Of My Mother, so heißt Storia di B. La Scomparsa di mia madre auf Englisch. Es ist ein italienischer Dokumentationsfilm, der kaum näher an der Hauptperson der Geschichte dran sein könnte. Denn das Ex-Supermodel Benedetta Barzini ist die Mutter des Regisseurs und Kameramanns Beniamino Barrese. Besonders wird der Film aber nicht nur durch seine rohe und einfache Machart, sondern lebt gar und gar von dem interessanten und klugen Charakter von Mutter Benedetta und ihrer Beziehung sowohl zur Kamera als auch zu ihrem Sohn, dem Filmemacher. Ganz anders als es bei einem ehemaligen Model zu erwarten wäre, verabscheut Benedetta nämlich die Kameralinse. Und sie will nur eines: einfach von der Bildfläche verschwinden.
The Disappearance Of My Mother ist ein kleiner und einfacher Film und dabei umso besser. Er zeigt, dass ein Film ohne Schnickschnack ganz allein durch eine Person getragen werden kann. Und wie es bei einem italienischen Mutter-Sohn-Film wohl nicht anders sein kann, ist er gespickt mit viel Humor, einigen Beleidigungen, Lautstärke und Gesten. Eine echte Überraschung, die einen nachdenklich zurücklässt. ah
“The Disappearance Of My Mother” hat noch keinen deutschen Starttermin.
For Sama (Syrien 2019)
Filme können brutal und grausam sein und den Zuschauer emotional erschüttern. Doch am Ende weiß man, dass alles nur gespielt war. Nicht so bei For Sama. Die Szenen in diesem Film sind echt und dadurch nur noch schlimmer. Denn Regisseurin Waad al-Kateab dokumentiert zwischen 2012 und 2016 mit ihrer Kamera für ihre kleine Tochter Sama ihr Leben in Aleppo. Explosionen, eingestürzte Häuser, getötete Menschen und verletzte Kinder gehören dazu. Mutig, aber auch schonungslos hält al-Kateab den ganzen Schrecken des Krieges fest, das unfassbare Leid, das er den Bürger*innen und ihrer Heimat bringt.
Die Bilder auf der Leinwand sind teilweise kaum erträglich und rühren tief an den Emotionen des Zuschauers. Gleichzeitig ist es unglaublich wichtig, dass sie gezeigt werden. For Sama ist eine sehr persönliche, aufrüttelnde und starke Dokumentation über den syrischen Bürgerkrieg und die Menschen in Aleppo; gedreht von einer couragierten, jungen Frau, die so lange für ihre Heimat gekämpft hat, bis es nicht mehr ging. jrl
“For Sama” kommt demnächst in die deutschen Kinos. Auf dem Filmfest München erhielt er den Publikumspreis.
Il vizio della Speranza (Italien 2018)
Rot leuchtet das Neon-Schild über Castel Volturno, einem der kriminellsten Vororte Neapels. Es ist aber so ziemlich das einzige, das hier leuchtet: Im rauen, skrupellosen Alltag des Menschenhandels und der Prostitution ist Hoffnung nicht mehr als „ein Laster“ (ital.: “il vizio”).
Für Maria (Pina Turco), die toughe, charismatische Hauptdarstellerin des Films, ist das Alltag. Sie kennt es nicht anders. Zwischen ihrer heroinabhägigen Mutter und der manipulativen Mafia-Chefin Tante Mari („slavery is beautiful“) schmuggelt Maria regelmäßig schwangeren Frauen mit dem Boot zu einer Händlerin. Erst als sie selbst auf mysteriöse Weise schwanger wird (willkommen, christliche Metaphorik!), verschiebt sich ihre Vorstellung von Leben, Hoffnung und Verantwortung. Eine packende Geschichte beginnt, die es schafft, Spannung und Betroffenheit mit einer unglaublich bestechenden Optik zu verbinden. Beige-bläulich gehaltene Töne gebrochen von rotem Neon beleuchten eine spannende und nachdenklich-mysteriöse Atmosphäre. vs
“Il vizio della Speranza” hat noch keinen deutschen Starttermin.
Leid und Herrlichkeit (Spanien 2019)
Während man im Kinosessel sitzt und sich Leid und Herrlichkeit anschaut, fragt man sich, worauf diese ganze Geschichte zusteuert und was jetzt die Pointe ist. Auf der Leinwand passiert in etwa Folgendes: Ein Regisseur, gespielt von Antonio Banderas, kämpft mit Rücken- und Kopfschmerzen aller Art und mit einem Schauspieler, mit dem er mal gearbeitet und sich aber zerstritten hatte. Dann geht es um eine vergessene Liebschaft, dann wiederum um früheste Kindheitserinnerungen. Irgendwie folgt alles aufeinander und auseinander, aber einen richtigen Reim kann man sich noch nicht recht daraus machen… bis ganz am Ende, wenn alle Teile des Films zu einem Ganzen zusammen fallen.
Dann nämlich fällt auf, dass der Film auf humorvolle, aber dennoch angemessene Weise über das nachdenkt, was man im Leben so getan hat und was einem angetan wurde. Leid und Herrlichkeit ist furchtbar komisch und komisch furchtbar geworden, in dem Sinne, dass der Film den Horror des Älterwerdens, des Vergessens, des Verdrängens und des Wiedererinnerns mit Humor verarbeitet. Kein anderer Film, der auf dem diesjährigen Filmfest gezeigt wurde, hat geschafft, Tragik und Komik so lebendig zu machen. msr
“Leid und Herrlichkeit” kommt am 25. Juli 2019 in die deutschen Kinos.
Making Waves: The Art of Cinematic Sound (USA 2019)
Die Dokumentation führt chronologisch durch die Geschichte des Sounddesigns im Film, einem vielfach unterschätzten Metier. Die Regisseurin Midge Costin ist eine Fachfrau auf diesem Gebiet, denn sie arbeitet als Professorin des Sound Editing an der USC School of Cinematic Arts. So gelingt es ihr, die Koryphäen der Tonästhetik vor die Linse zu bekommen: Walter Murch (Apocalypse Now), Alan Splet (The Elephant Man), Ben Burtt (Star Wars) und Gary Rydstrom (Jurassic Park).
Dabei sind es vor allem die kleinen Anekdoten, die Making Waves so interessant machen. Man erfährt zum Beispiel, wie der charakteristische Laut von Chewbacca in Star Wars entstanden ist: Es handelt sich um einen jungen Braunbären, der sich auf seinen Lieblingssnack freut. Zudem werden verschiedene Tontechniken wie Mono, Stereo und Surround erklärt und gleichzeitig im Kino demonstriert. Man sollte Making Waves deshalb unbedingt im Kino anschauen, um seine gesamte ästhetische Wirkung zu verstehen. Midge Costin verfällt keinesfalls in Nostalgie, denn es werden auch aktuelle Filme wie Black Panther und Roma besprochen. Making Waves schafft es so, seine Zuschauer für die verborgene Kunst der Tongestaltung zu sensibilisieren. sg
“Making Waves: The Art Of Cinematic Sound” hat noch keinen deutschen Starttermin.
Parasite (Republik Korea 2019)
Zurecht widmete das Filmfest dieses Jahr eine seiner Retrospektiven dem koreanischen Ausnahme-Regisseur Bong Joon Ho. Wer Hunde die Bellen beißen nicht oder The Host sieht, erkennt sofort seinen zuweilen dunklen Humor und seine filmische Handschrift wieder: Häufig eine Form des Klassenkampfes, meistens in Verbindung mit schrulligen Außenseiter-Charakteren.
Mit Parasite gelingt Bong Joon Ho erneut eine beißende Gesellschaftskritik, verpackt in einer unterhaltsamen und durchgehend packenden Mischung aus Thriller und Tragikkomödie. Der Cannes-Gewinner bringt zum Lachen, Zusammenzucken und hält den Zuschauer 131 Minuten am vorderen Rand des Kinosessels fest. Die „Parasiten“ sind in diesem Fall die ärmliche Familie Kim, die sich langsam in das Leben der reichen Familien Park einmischt und als Nachhilfelehrer, Chauffeur und Haushälterin deren Villa übernimmt. Die Dekadenz der koreanischen Oberschicht trifft hier auf das verschrobene Existenzminimum, und so viel sei verraten: Das Ende ist nichts für schwache Gemüter. vs
“Parasite” kommt am 17. Oktober 2019 in die deutschen Kinos.
Stillstehen (Deutschland 2019)
Stillstehen ist eine Tragikomödie, die von ihrer speziellen und eigensinnigen Story lebt. Julie, gespielt von Natalia Belitski, lässt sich fast jährlich freiwillig in eine Psychatrie einweisen und trifft diesmal auf ihre neue Betreuerin Agnes. Beide Charaktere sind interessant, aber die Spannung zwischen ihnen ist das, was Stillstehen so lebhaft macht. Nicht vergessen darf man aber auch die Nebendarsteller, also die Patienten in der Psychatrie: Sie machen den Film durch ihre spezielle und doch humorvolle Art ebenso sehenswert. Trotz ernster Themen verliert Stillstehen nicht seinen trockenen, oft sarkastischen Humor.
Außerdem begeistert der Film mit seiner Ästhetik: Sehr warme und sehr kalte Farben verdeutlichen die Gefühle von Julie und Agnes perfekt. Dazu kommt ein toller Soundtrack, der die Emotionalität in manchen Szenen gut unterstreicht. Abgesehen davon, dass Stillstehen ab einem gewissen Punkt sehr vorhersehbar wird und manche Handlungsstränge im Laufe der Geschichte verliert, ist die Tragikomödie für alle Fans von trockenem Humor und eigenwilligen Stories definitiv einen Besuch wert. fh
“Stillstehen” kommt demnächst in die deutschen Kinos. Unsere ausführliche Kritik lest ihr hier.
Vita & Virginia (Vereinigtes Königreich 2018)
Ein sinnlicher, intellektueller und poetischer Film, der sich gegen die Unterdrückung der weiblichen Kreativität ausspricht und herkömmliche Geschlechterrollen dekonstruiert: Das ist das historische Drama Vita & Virginia. Die charismatische Vita Sackville-West und die fragile, aber ungemein kluge Schriftstellerin Virginia Woolf beginnen eine Liebesaffäre. Vita dient schließlich als Vorlage und Inspiration für Virginias Roman Orlando, mit dem sie das Genre der Biografie revolutioniert.
Die Regisseurin Chanya Button hat eine hybride Mischform geschaffen, die eine poetische Sprechweise, Kostüme wie aus einem Historienfilm und zeitgenössische Musik vereint. Durch die gelungene Verflechtung von historischen und modernen Komponenten wird die progressive Thematik auf besonders nachdrückliche, unterhaltsame und schlichtweg schöne Weise unterstrichen. sg
“Vita & Virginia” kommt am 31. Oktober 2019 in die deutschen Kinos. Unsere ausführliche Kritik lest ihr hier.