© Matthias Heschl

radikal jung 2019

Die Hauptstadt

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Regisseurin Lucia Bihler eröffnete mit einer Bühnenfassung von Robert Menasses EU-Roman „Die Hauptstadt“ am Schauspielhaus Wien die aktuelle Spielzeit. Jetzt ist die Adaption des 450-Seiten Romans, für den Menasse 2017 den deutschen Buchpreis gewann, auf dem radikal jung Festival in München zu sehen.

Wie die vom Licht angezogenen Motten kommen sie aus dem Dunklen auf die Bühne gekrochen: Gestalten wie Puppen mit weißen Gesichtern und weit aufgerissenen, schwarz umrandeten Augen. Stoßweise zuckend, schlurfend und staksend bewegen sie sich fort. Lucia Bihler hat diese Zombies, Vampire, Gruselpuppen oder wie auch immer man diese Addams-Family-gleichen Figuren bezeichnen mag, in Blazer und Anzüge gesteckt. Denn das Szenario auf der Bühne ist nicht nur ein Grusel-, sondern auch das Europakabinett. Die EU in der (zombieapokalyptischen) Krise. Treffpunkt der gespenstischen Beamten: eine Bar irgendwo in Brüssel der Zeit und der Sphäre enthoben. Die Wände sind getäfelt mit dunkelgrünem Marmor und goldenem Messing, hinter der Bar flackern Vanitas-Stillleben auf einem Bildschirm. Alles auf dieser Bühne steht vor Dekadenz und Morbidität.

Geburtstagsfeier in Auschwitz

Gewählt ist dieses Szenario natürlich nicht zufällig. Im Zentrum der (gegenüber Menasses Roman konsequent gekürzten) Handlung steht das Big-Jubilee-Project der Generaldirektion Kultur, das anlässlich des 50-jährigen Bestehens der europäischen Kommission stattfinden soll. Ein Austragungsort muss her und frei nach dem 68er-Kredo „Europa denken, heißt ‚Nie wieder Auschwitz!’ sagen,“ könnte es doch keinen besseren Ort geben als den, an dem Unvorstellbares geschehen ist und auf dem Europas Gründungsmythos basiert: Auschwitz also. Welch gelungene Idee, finden die Beamtenzombies. Der Zuschauer schluckt. Was sich von da an entspinnt, ist ein Netz aus bürokratischem Wahnsinn und Planungsirrsinn jener Figuren, die mehr von eigenen Sympathien und Karrierehoffnungen als von EU-politischen Aufträgen geleitet werden.

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Triste Gestalten an der Bar: die Beamtenzombies aus dem EU-Gruselkabinett

Eine Handlung, so dicht, dass sie allein mittels Figurenrede gar nicht erzählt werden könnte. Aber dafür gibt es Bardo Böhlefeld. Er spielt den dem Geschehen enthobenen Androiden hinter der Bar, der durch eine Handbewegung das Licht ausgehen lassen kann, die anderen Figuren zum Einfrieren bringt oder in den Erzählebenen hin- und herswitcht. Böhlefeld spielt dieses Maschinenwesen mit unglaublicher Präzision und einer Stimme und Physis, die dem Zuschauer erst bei der Schlussverbeugung wieder ins Gedächtnis ruft, dass man es hier ja mit einem tatsächlichen Menschen zu tun hat. Aber auch die anderen Bühnen-Untoten stehen Böhlefeld kaum in etwas nach: jede*r der Darsteller*innen hat eine eigene Körperlichkeit entwickelt, die ihrer Figur eigen und (trotz Doppel- und Dreifachrollen) unverwechselbar ist. Und so gruselig ihr Erscheinungsbild ist: ihre Darbietung hat durchgehend auch etwas sehr komisches, menschliches.

Das europäische Grunddilemma

Luisa Bihler hat mit ihrer Inszenierung ein sehr zeitgemäßes und zynisches Bild der EU in der Krise entworfen, die bis ins Detail stimmt. Und auch wenn Menasses Texte nur so vor Beamtendeutsch und politischem Fachjargon strotzen, begreift der Zuschauer in dieser Inszenierung auch ohne großes Vorwissen das europäische Grunddilemma.

Angesichts der diesen Monat anstehenden europäischen Parlamentswahlen ein inszenatorischer Geniestreich, der genau die richtigen Fragen aufwirft: Wie soll man Gemeinschaft und Überwindung von Grenzen denken, jeder Nation aber ihre Selbstbestimmtheit und ihren Charakter lassen? Und: Schließt das eine das andere nicht womöglich aus?

“Die Hauptstadt” in einer Bühnenfassung von Lucia Bihler lief als Gastspiel im Rahmen des radikal jung Festivals für junge Regie im Münchner Volkstheater.