DOK.Fest 2019
Mehr Doku geht nicht
12 Tage, 159 Filme, 51 Länder: Wie jedes Jahr hat München das Doku-Fieber erwischt, und wir bieten euch unseren persönlichen Guide durchs Programm.
Für knapp zwei Wochen hat das DOK.Fest die Stadt im Griff und bringt Dokus aus aller Welt auf die große Leinwand. Die M94.5-Kinoredaktion hat sich schon einmal ein bisschen durchs Programm gewühlt und eine Auswahl an Highlights vorab für euch getestet.
100 Million Views (DOK.special)
Itamar Rose läuft durch die Stadt mit einem tragbaren Bildschirm um den Hals, auf der Suche nach Zuschauern. Er verpackt politische Inhalte in satirisch-kritische Videos. Dafür bekommt er zwar Auszeichnungen, nicht aber Clicks, Views oder Likes. Um das zu ändern, hat sich der israelische Regisseur ein klares Ziel gesetzt: Viral gehen. 100 Million Views. Mindestens.
Mit einem bewusst unbeholfenen, selbstironischen Charme macht er sich auf den Weg ins Mekka der Online-Videos: kontaktiert Mitarbeiter, Langzeit-Influencer und Einmal-Click-Wunder. Zieht im Selbstersuch alle Register. In unterhaltsam-kritischer Michael-Moore-Manier lässt er Bilder und Worte für sich sprechen. Auf diesem mehr als steinigen Weg schafft er es, mit zahlreichen Gesprächen und Versuchen tatsächlich das System hinter der Geldmaschine Youtube verständlicher zu machen. vs
“100 Million Views” ist zweimal auf dem DOK.Fest zu sehen.
Another Reality (DOK.deutsch)
Drogengeschäfte, Körperverletzung, Knast – eine Welt, die gerne als Parallelgesellschaft abgestraft wird. Doch die Jungs in Another Reality sind keine, vor denen man Angst haben will. Der Film zeigt zurückhaltend und unaufgeregt die Aussichtlosigkeit in kriminellen Vierteln in Deutschland und weckt trotz allem Sympathien für die, die auf die schiefe Bahn geraten sind. Allen Vorurteilen entgegenwirkend porträtieren die Regisseure Noël Dernesch und Olli Waldhauer Schlägertypen als im Grunde nette Jungs, die auf beinahe rührende Art versuchen, ihrer Welt zu entkommen und etwas aus sich zu machen. Der große Traum: als Deutschrapper durchstarten.
Another Reality ist trotz zwischenzeitlicher Längen absolut sehenswert und sensibilisiert zudem für ein topaktuelles Thema: Was bedeutet es, sich als Deutscher zu fühlen und von außen nur als „Kanake“ wahrgenommen zu werden? as
“Another Reality” ist viermal auf dem DOK.Fest zu sehen.
Bellingcat (DOK.special)
Die Bürgerjournalisten hinter “Bellingcat” machen das, wofür Journalisten oft keine Zeit bleibt: die Wahrheit aufdecken, auch wenn sie traurig oder schockierend ist. Schockierend sind auch die Szenen, die die Dokumentation zeigt, nicht aber wegen der Gräueltaten, die auf der Welt passieren, sondern der Wahrheit dahinter, die oft von den Medien oder Regierungen vertuscht wird. In Bellingcat treten genau diese Bürgerjournalisten auf und erzählen sehr ehrlich von ihren Erfahrungen und ihrer Arbeitsweise.
Durch die vielen örtlichen und zeitlichen Sprünge wirkt die Dokumentation allerdings ein wenig zerrissen. So fällt es hin und wieder schwer, der Handlung die eigentlich so verdiente Aufmerksamkeit zu schenken. Hat das Investigativ-Team aber wieder einen Fall enträtselt, so staunt der Zuschauer über die Beweise, die auf der ganzen Welt – und das nicht ohne Risiko – gesucht und gefunden wurden. fh
“Bellingcat – Truth In A Post-Truth World” ist zweimal auf dem DOK.Fest zu sehen.
I Am Anastasia (DOK.deutsch)
Oberstleutnant Anastasia Biefang ist in ganz Deutschland die erste Trans-Frau, die ein so hohes Amt bekleidet. Die Dokumentation I am Anastasia begleitet sie vor dem Hintergrund ihrer Amtsübernahme. Von Besprechungen mit Offizieren über Pride-Parade zu geschlechtsangleichenden Operationen, die Kamera verfolgt Anastasia auf ihrer Reise, noch mehr die Person zu werden, die sie im Inneren schon immer war. In Einzelinterviews nehmen Kollegen Stellung zu ihrer Haltung gegenüber der neuen Kommandeurin. Anfängliche Vorbehalte, Skepsis und Unsicherheit wurden ausgetauscht durch Respekt, Akzeptanz und Freundschaft.
Der Fokus der Dokumentation liegt auf dem Positiven: Geburtstage mit neuen Freunden aus dem Bataillon, Parties zur Geschlechtsangleichung, Hochzeit mit der Freundin vor dem Auslandseinsatz. Negative Reaktionen aus dem Umfeld oder Hasskommentare aus der rechten Ecke werden nur am Rande thematisiert. Was hierbei zu wenig Beachtung findet: Die Schicksale von anderen LGBTQI–Personen im Militär. Was ist mit Personen, deren Umfeld nicht derart unterstützend und akzeptierend ist wie das von Anastasia? Gibt es Soldaten, die sich aus Angst vor den Reaktionen nicht outen? Was unternehmen Bundeswehr und Regierung, um diese Menschen zu unterstützen? Diese Fragen bleiben unbeantwortet und die Dokumentation deshalb in vielerlei Hinsicht unreflektiert. Während die Geschichte von Oberstleutnant Anastasia Biefang Mut macht, bleibt die Berichterstattung doch gefährlich einseitig. fm
“I Am Anastasia” ist viermal auf dem DOK.Fest zu sehen.
Lovemobil (DOK.deutsch)
Anmerkung der Redaktion: Durch Recherchen des NDR ist inzwischen, fast drei Jahre nach dem Erscheinen dieses Artikels, aufgedeckt worden, dass die preisgekrönte Dokumentation “Lovemobil” zu weiten Teilen gefälscht ist. Die meisten der Protagonist:innen sind Schauspieler:innen, die Interaktionen gestellt und die Lovemobile als Drehorte gemietet. Ein Dokumentarfilm muss die Realität zeigen, nicht mehr und nicht weniger. Dies tut “Lovemobil” nicht. Jahrelang betonte die Regisseurin Elke Lehrenkrauß, wie intensiv sie sich mit der Thematik und den Protagonist:innen auseinandergesetzt hat. Sie selbst, gibt inzwischen zu, es “versäumt zu haben” nachgestellte Szenen als solche zu kennzeichen. Aus Transparenzgründen lassen wir unsere Kritik dennoch hier stehen.
Im Fenster hängt ein grell leuchtendes Herz. Die Fensterscheibe des schäbigen Wohnwagens dekoriert in Lichterketten. Rot, Grün und Weiß blinken im Wechsel. An der Scheibe rauschen auf der langen Straße Autos durch den Wald. Viele kommen aus Wolfsburg, aus dem Volkswagen-Werk. Die Frauen, die hier in aufreizender Unterwäsche hinter den Scheiben sitzen, nutzen die Wohnwägen als Minibordelle.
Elke Margarete Lehrenkrauß hat in einer dreijährigen Recherche eine Dokumentation über das harte Leben der Frauen in den sogenannten Lovemobilen geschaffen, die beinahe einem Spielfilm gleicht. Gerade deswegen ist es so wichtig zu wissen, welche intensive Vorbereitung in diesem Streifen steckt. Denn ohne dieses Wissen wirkt der Film oftmals gestellt und unauthentisch (siehe hierzu bitte Anmerk. der Red.). Doch zieht man in Betracht, wie gründlich die Regisseurin sich mit dem Thema, den Protagonistinnen, deren Sorgen und Problemen auseinandergesetzt hat, rückt der Film in ein neues Licht und präsentiert sich am Ende als eine gut recherchierte, emotionale und eingängige Dokumentation. ah
“Lovemobil” ist viermal auf dem DOK.Fest zu sehen.
Master of Disaster (DOK.deutsch)
Umgestürzte Züge und Feuerwehrautos, überall Leichen und Rauch, Sirenen heulen. Eine Katastrophe. Doch nur eine konstruierte: Fast wöchentlich finden in Deutschland sowohl kleine, als auch große Tests von Katastrophenfällen statt. Denn man muss ja für den Ernstfall vorbereitet sein. Die Dokumentation Master of Disaster folgt mehreren Hauptfiguren: Etwa zwei älteren Ex-Soldaten, die in einem kleinen Dorf bei Leverkusen die Gegend auf Gefahrenstellen untersuchen; oder Feuerwehr und Freiwillige, die bei inszenierten Katastrophen-Darstellungen Chaos nachstellen, um so für eine reale Bedrohung zu üben.
Leider verliert sich die Doku zwischenzeitlich in ihrer Fülle an Nebenhandlungen, etwas mehr Fokus auf etwas weniger Themen hätte dem Streifen gut getan. Besonders interessant wird es erst wieder gegen Ende, wenn das Schweizer Hochsicherheits-Rechenzentrum Swiss Fort Knox“ vorgestellt wird. Neben Naturkatastrophen und Terroranschlägen gehen diese Bedrohungen der digitalen Welt allerdings ein wenig unter. Dennoch ist Master of Disaster ein beeindruckender Dokumentarfilm, der ohne viel Schnick-Schnack funktioniert und den Zuschauer an Orte bringt, die ihm sonst verborgen bleiben würden. jrt
“Master of Disaster” ist viermal auf dem DOK.Fest zu sehen.
No Box For Me (Best of Fests)
Deborah ist intergeschlechtlich. Sie hat XY-Chromosomen, aber wies schon als Neugeborene männliche und weibliche Geschlechtsmerkmale auf. Für ihre Doktorarbeit begibt sie sich auf die Suche nach anderen intergeschlechtlichen Menschen. Der Film begleitet sie dabei und schafft es, die Balance zwischen der Nähe zu den Betroffenen und einem reflektierten Abstand gegenüber den Problemen, den sich intergeschlechtliche Menschen immer noch ausgesetzt sehen, perfekt aufrecht zu erhalten. Gerade wenn die Betroffenen von ihrem persönlichen Leiden erzählen, wird das mit fantasievollen Animationen bebildert. So veranschaulicht die Doku sehr sensibel, wofür es eigentlich keine Worte gibt, und schafft gleichzeitig das nötige bisschen Leichtigkeit bei so schweren Stoffen wie ästhetischen (sic!) Genitaloperationen im frühen Kindesalter.
No Box For Me löst mit sanfter Stimme das Schweigen um ein Thema, das kein Tabu sein sollte. Ohne Bitterkeit, dafür mit viel Verständnis für alle Seiten, erzählt die Doku von den Fehlern der Vergangenheit und macht Hoffnung auf eine Zukunft, in der Geschlechtsidentität kein Thema mehr sein muss. ag
“No Box For Me. An Intersex Story” ist dreimal auf dem DOK.Fest zu sehen.
Putin’s Witnesses (Best of Fests)
Als Dokumentarfilmchef eines staatlichen Senders durfte Vitali Manski Putin in den späten 90ern während des Wahlkampfs und seines Amtsantritts begleiten und hatte Zugang zu den innersten Zirkeln der russischen Regierung. Dabei sind Filmaufnahmen entstanden, die den Präsidenten aus nächster Nähe zeigen: an seinem Schreibtisch, im Auto, im Schwimmbad. In Gesprächen versucht der Regisseur herauszufinden, was für eine Person Putin wirklich ist. Doch die unheilvolle Musik, die den ganzen Film über eine bedrohliche Atmosphäre schafft, deutet an, was auch Manski aus seiner heutigen (Exil-)Perspektive als Stimme aus dem Off kommentiert: Anzeichen für einen problematischen Kurs der Regierung mit Putin an der Spitze waren auch zu Beginn schon da, wenn man nur genau hingeschaut hätte.
Die Aufnahmen über den Beginn Putins bestechen vor allem durch die exklusive Nähe, die Manski mit seiner Kamera hatte. Etwa erzählt Putin auf einer Fahrt zum Fitnessstudio, dass er sich freut, dass seine Amtszeit begrenzt ist und er dann als normaler Bürger leben kann. Da muss man als Zuschauer schon mal schlucken, ähnlich bei Manskis Kommentaren aus dem Off: Zum Beispiel wenn er Putins damaliges Wahlkampfteam zeigt und erklärt, wo diese Personen jetzt sind; in der Opposition, entlassen oder gar nicht mehr am Leben. jrl
“Putin’s Witnesses” ist dreimal auf dem DOK.Fest zu sehen.