SPIELART

12AM: AWAKE AND LOOKING DOWN

/ / Bild: 12am: Awake & Looking Down | Forced Entertainment © Hugo Glendinning

Wir entscheiden in den ersten Millisekunden einer Begegnung, was wir von unserem Gegenüber halten. Dann ist der Typ gegenüber in der Bibliothek, der Streber mit Hornbrille und die Frau mit Jackett bestimmt BWLerin. Andere zu labeln ist Teil unseres Alltags. In der Performance 12AM: AWAKE AND LOOKING DOWN von Forced Entertainment werden diese Mechanismen ad absurdum geführt.

Rechts und links der Bühne hängt ein Sammelsurium an bunt gemischten Altkleidern. Darunter sind über hundert Pappschilder mit verschiedenen Aufschriften fein säuberlich sortiert. Im kurzen Kleidchen tanzt eine junge Frau fröhlich CanCan über die Bühne. Dabei hält sie strahlend ein Schild mit der Aufschrift „The dead girls sister“ über ihren Kopf. Als die Performerin auf der anderen Seite der Bühne ankommt, legt sie das Schild und das Kleid ab, wirft sich einen Mantel über und sucht sich ein anderes Schild. Mit der Kleidung schlüpft sie auch in eine neue Rolle und geht als diese zurück auf die Bühne.

Ein Thema, das bitteren Humor fordert

12 AM: AWAKE AND LOOKING DOWN ist eine Performance, die theoretisch unendlich lang andauern könnte. Jeder der fünf Performer sucht sich eines der Schilder, kleidet sich dann entsprechend der Aufschrift und mimt dann das Label, das er sich selbst zugeordnet hat. Gesellschaftskritische Schilder wie „economic immigrant (age 5)“ wechseln da in Sekundenschnelle mit den Namen bekannter Personen, wie Elvis Presley oder Angela Merkel. Die Figuren werden teilweise überzeugend echt, teilweise als leere Stereotype verkörpert. Das kann mitunter sehr witzig werden, wenn zum Beispiel einer der Performer gemütlich über den Rand der Bühne hinausläuft, in der Hand ein Schild mit der Aufschrift: „A Man that went to far“.

Schubladen

Die Figur-Hülsen, die daraus entstehen interagieren kaum miteinander. Sie sind offensichtlich allein für das Publikum geschaffen. 12 AM entlarvt so wie willkürlich Menschen abgestempelt werden. Dass die Performer direkt vor einem über die Bühne rennen, ihre Erschöpfung immer sichtbarer wird und Schilder und Kleidung immer achtloser an den Rand der Bühne geworfen werden, betonen wieviel Anstrengung es kostet, den Labeln gerecht zu werden.

Mit Spiellust über 6 Stunden

„Forced Entertainment“ aus Großbritannien ist das Kollektiv, das hinter der Performance steht. Wer hier jedoch Unterhaltung sucht, der ist in der falschen Vorstellung. Außer den Geräuschen auf der Bühne und ein paar Minuten Musik zu Beginn jeder Stunde, gibt es sonst keinen Ton. Auch bietet das Prinzip hinter dem Werk nach einiger Zeit kaum noch Überraschungen. Ideen wiederholen sich, auch wenn die Umsetzung immer eine andere ist. Tim Etchells vergleicht die Performance mit einem Fußballspiel:

In a way it’s like football, or any sport: you know what the rules are, you know who the players are, but you don’t know what will transpire inside the set of rules.

Tim Etchells (Forced Entertainment), im Interview mit Spielart

Gewinnen, kann in diesem Spiel jedoch niemand. So ist die Performance nicht nur für die Darsteller ermüdend. Ein Umstand, der dem Kollektiv jedoch kaum vorgeworfen werden kann, denn die Performance ist konzipiert, um über mindestens 6 Stunden zu gehen. Daher steht es den Zuschauern frei zu kommen, zu gehen und wieder zu kommen wann sie wollen. Am Ende ist es der Witz und die Spiellust der Performer, die das Publikum auf seinen Plätzen hält oder zu ihnen zurückruft.